„Exit to Iceland“

Hätte mir jemand vorher gesagt, dass diese letzte Tür, die die Gepäckabholung vom Empfangsraum der Ankunft trennt, wie eine Zeitmaschine wirkt und mich innerhalb von Sekunden in die erste Hälfte von 2018 zurück katapultieren würde – Ich hätte ihn ausgelacht. Und doch fühlt es sich schon beim Verlassen des Flughafens so an, als wäre ich nie weg gewesen, als sei es das Normalste der Welt, den altbekannten unebenen Straßen nach Selfoss zu folgen, in regelmäßigen Abständen das Aufleuchten des reflektierten Lichts auf den Straßenmarkierungen zu sehen, auf dem höchsten Punkt des Berges zwischen Reykjavík und Selfoss in den nächsten Sturm zu fahren, den gewohnten Weg am Bókasafn vorbei zu kommen und schließlich durch die nie verschlossene Tür zu gehen, die beim Öffnen ein bisschen hängen bleibt.

Als Bryndís mich am nächsten Morgen in Selfoss aufsammelt, mich stürmisch umarmt und mir nach einer wilden Fahrt über die Schotterstraßen stolz den umgebauten Pferdestall für die neugeborenen Kälber zeigt, fällt es mir auf Nachfrage am Abend, seit wann ich denn wieder in Island sei, selbst schwer zu glauben, dass es nicht schon Wochen und Monate, sondern gerade einmal wenige Stunden sind. Das einzige Indiz dafür, dass es wirklich ein Jahr her ist, seitdem ich das letzte Mal die holprige Straße über den Eingangsweg zur Farm gefahren bin, sind Már Óskar und Haukur Atli, an denen man mit ihren acht und drei Jahren Veränderungen sehr viel schneller merkt, als bei Erwachsenen, für die Zeit ein großes, nicht fassbares Gebilde bleibt, in dem Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft langsam miteinander verschwimmen. Und doch ist erstaunlich, wie sich auch hier nichts geändert hat, außer dass Haukur um einiges schlauer, kommunikativer und größer geworden ist. Ansonsten kommt er immer noch freudekreischend auf mich zu gerannt, wenn er in seinem wilden Laufen fast wieder umgefallen ist, redet die gleichen Laute wie auch letztes Jahr, freut sich immer noch wahnsinnig, wenn man ihn verfolgt und schließlich einholt und hat auch nicht nur ein Stück seiner Energie verloren, mit der er tagtäglich wie ein Stehaufmännchen durch die Gegend läuft, ohne auch nur den geringsten Sinn für Gefahren zu haben.

Egal, ob von den Großeltern der Kinder, Bryndís Bruder, Tanten oder Onkeln, von allen werde ich fröhlich wie immer mit einem „Gaman að sjá þér“ begrüßt und es ist nicht wirklich verwunderlich, dass ich nach zwei Tagen bereits die halbe Familie wiedergesehen habe, denn nichts lieben die Isländer so sehr wie spontane Besuche oder das kurze Vorbeischauen und Abklappern aller Familienmitglieder, wenn man mal gerade in der Umgebung ist, wobei „Umgebung“ wohlgemerkt in einem Land, wo der nächste Nachbar schon mal hunderte Meter weit weg liegen kann, ein wenig anders definiert wird, als das in Deutschland der Fall ist.

Mir war nicht wirklich bewusst, wie sehr ich es vermisst hatte, aber als ich nachmittags mit Haukur Atli über die Heuballen klettere, mit Bryndís nach dem Melken über die Felder reite und Már Óskar mich zum hundersten Mal mit einem „Anna, sjáðu“ darauf aufmerksam macht, dass er mir etwas Neues zeigen will, bekomme ich in großen Teilen das Gefühl zurück, weswegen ich einst überlegt hatte, meine Zeit auf ein Jahr zu verlängern: Glücklich sein ohne einen Auslöser zu brauchen, sondern einfach, weil man am richtigen Ort ist.